Die "Ich-Insel"

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Empathie ist die Bereitschaft und Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzufühlen und deren Emotionen, Interessen, Bedürfnisse, Werte, Haltungen und Einstellungen verstehen zu wollen.

Die Studie "Werte in der Arbeitswelt-2020" kommt zum Schluss, dass nach Einschätzung der Arbeitnehmer Empathie keine wie immer geartete Rolle in der Arbeitswelt spielt. Sie ist für eine durchschnittliche Unternehmenskultur nicht kennzeichnend und wird von einer Vielzahl anderer Werthaltungen, die für Unternehmen wichtiger sind, überlagert. Für Arbeitnehmer allerdings ist Empathie besonders wichtig, ja einer der meistgeschätzten Werte überhaupt. Bezüglich der Empathie klafft also eine Wertelücke zwischen der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite. Überspitzt könnte man die Studienergebnisse so interpretieren, dass Führungskräfte ein geringes Interesse verspüren, sich mit Mitarbeitern als Menschen auseinanderzusetzen, solange sie im Interesse des Unternehmens einigermaßen funktionieren. Die Arbeitnehmer verspüren jedoch den starken Wunsch, mit all ihren Facetten des Menschseins wahrgenommen zu werden und nicht nur als Glied in der Kette oder Werkzeug im Maschinenraum gesehen zu werden. Empathie ist daher nicht nur eine Werthaltung, sondern auch ein - zumeist unerfülltes – Bedürfnis nach Sichtbarkeit für die eigene Person.

Dieses Bedürfnis ist - neben anderen Faktoren - auf den ausgeprägten Individualismus und die immer stärker werdende Individualisierung in unserer Gesellschaft zurückzuführen. Jeder will am Stockerl stehen. Wenig verwunderlich, dass laut meiner Studie Autonomie, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung ebenfalls zu den meistgeschätzten Werthaltungen der Arbeitnehmer zählen. Der Trend zur „Ich-Insel“ scheint sich dadurch zu bestätigen.

Genau darin lauert die Gefahr für die Arbeitswelt: je stärker sich Arbeitnehmer darauf fokussieren, „ihr eigenes Ding zu machen“, desto weniger sind sie geneigt, sich ins Unternehmen einzubringen. Je höher das Stockerl, auf das sie sich selbst stellen, desto weniger sind sie bereit, auch mal das eine oder andere Opfer für das „größere Ganze“ zu bringen. Führungskräfte fragen mich verzweifelt: „Wo bleibt die Empathie gegenüber dem Arbeitgeber? Hat nicht auch der das Recht, mit seinen kommerziellen Bedürfnissen wahrgenommen zu werden? Einsatz und Engagement zu verlangen im Abtausch für ein Gehalt, das manchmal nur mehr als Anwesenheitsprämie gesehen wird?“ Verständliche Sorgen, denn je stärker Empathie und Autonomie in übersteigerter Form hochgehalten - ja angebetet - werden, desto tiefer versinkt man in verletzlicher Ichbezogenheit und vermag keinen Beitrag für das Kollektiv zu leisten.

Die Fähigkeit und Bereitschaft, sich für den Arbeitgeber „reinzuhauen“, ist im Sinkflug begriffen - das ist mittlerweile gut dokumentiert. Aus diesem Grund erlangt die Notwendigkeit, im Personalmanagement auf übereinstimmende Arbeitgeber- und Arbeitnehmerwerten zu achten, immer zentralere Bedeutung. Denn nur Arbeitnehmer, die eine Mehrzahl ihrer persönlichen Werte im Unternehmen verwirklicht sehen, werden in ihrer Arbeit den Purpose erkennen, der sie zu Höchstleistungen anspornt. Eine Analyse mit dem Werte-Assistenten kann auf der Suche nach diesem „Cultural Fit“ unterstützen.