Ich sitze vor meiner Almhütte, blinzle in die wärmende Frühlingssonne und räkle mich gemächlich auf meiner Lärchenbank. Doch lange will der Müßiggang nicht währen – ich springe auf, ich muss was tun. Schnellen Schrittes eile ich zur Gartenhütte, greife entscheidungsfreudig zu den Werkzeugen meiner Wahl und mache mich über meinen Garten her. Ein Gefühl der Macht kommt auf, als meine Motorsense die ersten Halme fällt. Euphorisch greife ich zur Baumschere und metzle überhängende Sträuche meines Nachbarn nieder. Exterminisierungsbesessen falle ich über das Unkraut in meinem Blumenbeet her, hämisch grinsend mache ich Löwenzahn und Co. den Garaus. Siegestrunken lasse ich mich mit einer Flasche Bier auf meinem Gartenstuhl nieder und betrachte selbstgefällig mein Werk.
Mein Blick fällt auf ein unscheinbares Loch neben dem Tulpenbeet: Wühlmaus-Alarm! Neben dem Flieder rührt sich plötzlich die Erde: Maulwurf-Attacke! Kann ich das zulassen? Niemals! Mit Wühlmaus-Abwehrköder hechte ich zum Tulpenbeet, schlage eine Ninja-Rolle und positioniere mich mit einem Spaten bewaffnet neben dem Maulwurfshügel, um dem possierlichen Tierchen bei der geringsten Bewegung eins überzubraten. Es geht doch nichts über Gartenarbeit: Ich bin Herr über Leben und Tod, ich bestimme, was gedeiht oder stirbt. Meine Machtgelüste kann ich hier hemmungslos ausleben, Allmachtsphantasien setze ich tatkräftig in die Realität um. Gegenwehr? Gibt´s nicht. Jeder Grashalm beugt sich meinem Willen. Wenn´s nur im Job auch so wär´.
Das war ich als Führungskraft. Lang ist´s her. Und heute?
Ich muss nix mehr tun, sondern ich kann, wenn ich will. Der Rasen muss kein englischer sein, Sträuche dürfen überhängen und Löwenzahn hat seine Daseinsberechtigung zwischen Rosen und Bartnelken. Wühlmäusen, Maulwürfen und selbst der gelegentliche Katze, die in mein Beet pisst, begegne ich mit Achtsamkeit. Ich bemerke, dass die Tiere da sind, weil sie immer da waren und immer da sein werden, egal was ich mache. Mein Wunsch nach weniger Löchern, Hügeln und Katzenkot macht mich nur unglücklich, weil ich ihn nie verwirklichen kann. Sollte ich mich über diese Details ärgern, erinnere ich mich behutsam daran, dass derlei Emotionen für meine Psyche nicht günstig sind und labe meine Sinne am Gesamtbild meines Gartens. "Schön ist er, so unperfekt, so vielfältig." Gewaltfreie Gartenarbeit – es geht auch anders. Wenn´s nur im Job auch so gewesen wär´.
Führungskräfte, fühlt die Frühlingskräfte! Gartenarbeit ist Management-Training. Sie lehrt euch wichtige Werte wie Achtsamkeit, Rücksicht und Gelassenheit. Damit kommt ihr vielleicht nicht höher hinaus, aber besser durch´s Leben.
PS:
Für alle LeserInnen meines Blogs, die an werteorientierter Unternehmensführung interessiert sind: "Spannungsfelder im Topmanagement - Ein Praxisleitfaden für gute Corporate Governance" ist im September 2022 neu erschienen. Gute Einsichten bei dieser Lektüre wünscht,
Christoph Dietrich