Weihnachtsbaum und Krisenjahr

Das isser, mein Weihnachtsbaum. Mein „Mini Me“, wie meine Frau meint. Unten breit, oben kahl. Ich hätte wohl in den Spiegel geblickt, als ich den Baum aussuchte. Ich sehe das natürlich anders. Obwohl – der Coronaspeck hat mich schon zu einem „schönen Bröckerl“ werden lassen, wie meine Mutter meint. Für alle, die mich nicht persönlich kennen: ich bin 2cm grösser als dieser Christbaum und mindestens 100 kg schwerer. Die Sticheleien aus meinem näheren Umfeld lassen mich mit feuchten Augen an meine Großmutter denken: „Ein Mann ohne Bauch ist wie ein Himmel ohne Sterne.“

Wie dem auch sei: ich sitze vor dem Baum und stelle mir vor, dass die Christbaumkugeln Werthaltungen darstellen. Welche Werte habe ich heuer in meinen Workshops besonders oft gehört? Und ist es nicht total strange, dass wir alle etwas anderes meinen, obwohl wir über dieselben Werte reden?

#Nachhaltigkeit:

Der Wirtschaftstreibende, finanzorientiert: „Nachhaltigkeit bedeutet fortwährendes Wachstum. Dazu muss alles so bleiben, wie´s ist.“

Der Wachstumskritiker, kopfschüttelnd: „Nachhaltigkeit geht nur, wenn sich alles verändert.“

#Flexibilität:

Der Arbeitgeber, verzweifelt: „In dieser Situation müssen mir meine Arbeitnehmer maximal entgegenkommen.“

Der Arbeitnehmer, selbstbewusst: „Die Arbeitgeber müssen uns endlich die Zugeständnisse machen, die wir brauchen, um gut arbeiten zu können.“

#Eigenverantwortlichkeit:

Der Impfgegner, ichbezogen: „Die sollen mich tun lassen, wie ich will.“

Der Impfbefürworter, schulmeisternd: „Die sollen sich endlich selbst schützen.“

#Authentizität:

Der Sebastian-Kurz-Fan, euphorisch: „Der Basti ist voll authentisch.“

Der Sebastian-Kurz-Gegner, angewidert: „Urrrgh – der ist voll unauthentisch.“

#Transparenz.

Der Traditionalist, misstrauisch: „Was bringt´s mir, wenn jeder in mein Unternehmen reinschauen kann?“

Der Progressive, offen: „Wenn jede Anspruchsgruppe das weiß, was sie wissen muss, entsteht Vertrauen.“

#Integrität.

Der Politiker, achselzuckend: „Ich muss die Interessen meiner Klientele berücksichtigen.“

Die Wählerin, wütend: „Man muss nur Beziehungen haben, der Rechtsstaat gilt nichts.“

#Fairness.

Der Geschäftsführer, hemdsärmelig: „In der Wirtschaft gilt das Recht des Stärkeren.“

Die Studentin, fordernd: „Ich will, dass alle was davon haben.“

Diese Aufzählung ließe sich beliebig lange fortsetzen. Was ich euch damit vor Augen führen will? Die Krisen, die wir derzeit durchleben, zeigen deutlich, dass Werthaltungen ausdiskutiert werden müssen, um zu einer gemeinsamen Kultur zu finden. Es gibt keine „One size fits all“ in der Wertediskussion – Werte haben keine Einheitsgröße, die jedem passt, und keine Definition, die für jedermann anschlussfähig ist. Wir können Werte nicht einfach in den Online-Warenkorb (aka Verhaltenskodex) legen und uns hübsch verpackt mit der Aufschrift "Das ist unsere Unternehmenskultur" schicken lassen.

Werte sind schließlich ein Produkt unserer emotionalen Erfahrungswelt, die dazu führt, dass sich jeder seine eigene Anschauung zurechtlegt. Um zu einer gemeinsamen Auffassung zu gelangen, welche Bedeutung einzelne Werte besitzen, bedarf es einer eingehenden Debatte. Noch schwieriger wird´s, wenn wir uns überlegen, wie Werte in einem Unternehmen gelebt werden sollen. Dann geht´s richtig kontrovers zur Sache - aber diese Gegensätze zu diskutieren, wirkt verbindend. „Durch´s Reden kommen die Leut´ z´samm´.“ Nichts schafft eine Kultur der Gemeinsamkeit so sehr wie eine respektvolle Diskussion unterschiedlicher Ansichten – auch wenn am Ende Differenzen bestehen bleiben.

Aber dafür hat ja keiner Zeit, und schon gar nicht die Nerven. Und schon überhaupt nicht zu Weihnachten. Oder vielleicht doch? Dann werft einen besinnlichen Blick in die zweite Auflage von Werte checken Sinn entdecken

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