Integrität: Die Anständigen sollen die Zuständigen sein

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"Überall sollen die Anständigen die Zuständigen sein", meinte der Publizist Fritz P. Rinnhofer. Man wird sich doch noch etwas wünschen dürfen, noch dazu in dieser (korruptionsgeplagten) Jahreszeit. 🎅 👸🎄 Braucht es angesichts aktueller Korruptionsskandale jedoch tatsächlich mehr Regeln und Kontrolle? Mit diesem Kommentar - der zur Abwechslung einmal politisch, aber ungemein relevant für Governance und Leadership ist - verabschiede ich mich bis Jänner und wünsche besinnliche Feiertage.

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Waren die Nazis etwa integer, nur weil sie jede Menge Regeln hatten und ganz toll im Verwalten waren? Dies würde wohl kaum jemand behaupten, und dennoch: totalitäre Regimes sind dadurch gekennzeichnet, dass für jeden noch so kleinen Lebensbereich Regeln erlassen und Kontrollmechanismen entworfen werden – und sich am Ende keiner danach richtet. Schon gar nicht die Machthaber, Funktionäre und Apparatschiks, die Regeln lediglich für andere gelten lassen und nur die kleinen Rädchen im System einer Kontrolle unterwerfen.

Die EU ist kein totalitäres Regime. Immerhin gibt es ein vom Volk gewähltes Parlament und starke Institutionen, die auf „Checks and Balances“ ausgerichtet sind. Darüber hinaus vertritt die EU demokratische Werte wie Menschenrechte, Diversität und Nachhaltigkeit, über die sie den Rest der Menschheit gerne konsequent belehrt.

Diese Werte sind allerdings für die Katz´, wenn sich politische Entscheidungsträger nicht durch Integrität auszeichnen. Integrität ist deswegen eine Basiszutat für das Demokratierezept, weil sie unmittelbar vertrauensstiftend wirkt. Vertrauen ist jene Emotion, die die Wohltaten der Demokratie (zu denen wir auch Menschenrechte, Diversität und Nachhaltigkeit rechnen dürfen) erst zum Erblühen bringt.

Integrität ist eine verinnerlichte Werthaltung, die nur durch Vorbildwirkung und Selbstreflexion entsteht. Der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen scheinen angesichts des Korruptionsskandals im EU-Parlament jedoch andere integritätsfördernde Maßnahmen vorzuschweben:

„Wir brauchen Regeln, Standards und Kontrolle“. Als ob es nicht schon genug Normen und Kontrolle gäbe.

„Wir brauchen einen Ethikrat.“ Als ob es nicht schon genug Gremien gäbe.

Regelverletzungen sollen demnach mit noch mehr Regeln, Fehlverhalten mit noch mehr Überwachung bekämpft werden. Mehr vom Gleichen also – eine typisch menschliche Krisenreaktion, die für die meisten Europäer noch dazu verständlich ist. Schließlich sind sie in politischen Systemen aufgewachsen, die stark reguliert sind und bisher ganz passabel funktioniert haben. Ein paar Regeln mehr können daher nicht schaden, oder?

Mehr ist in diesem Fall allerdings weniger:

  1. Zusätzliche Regeln führen nicht zur gewünschten Verhaltensänderung, sondern lediglich zu formalistischer Befolgung. Die Menschen ökonomisieren ihr Verhalten angesichts der Normenflut, sodass Compliance zu einer „tick-the-box-exercise“ verkommt.
  2. Legislative Regulierungswut macht die Bösen nicht gut, sondern frustriert die Guten.
  3. Frustration wiederum veranlasst die Guten wie die Bösen, Umgehungswege zu suchen und auch zu finden.
  4. Je mehr Regeln, desto höher der Verwaltungsaufwand. Eine Sanktionierung der Regelverstöße unterbleibt meist. Das wissen die Bösen und freuen sich, wenn sich die Exekutive selbst beschäftigt. Regeln zu erlassen, aber nicht durchzusetzen, gefährdet den Rechtsstaat und die Demokratie.
  5. Die Normenflut ist verwirrend und ineffizient. Sie taugt nur, um Arbeitsplätze in der Verwaltung und den Rechtsberufen zu schaffen.
  6. Die Normenflut korrumpiert das Anstandsgefühl, weil sich die Bürger höchstens fragen, ob ihr Verhalten rechtens, aber nicht, ob es richtig ist. Wozu eine persönliche Ethik kultivieren, wenn alle Lebenssachverhalte von der Obrigkeit geregelt werden? Diese Denkungsweise fördert eine gefährliche Geisteshaltung, die die Grundregeln des gemeinschaftlichen Miteinander komplett erodiert. Ethisch zu handeln heißt nämlich, das Wohlergehen anderer Menschen mitzudenken, anstatt die eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund zu stellen.

Wenn jedoch zusätzliche Regeln integres Verhalten nicht fördern, was dann?

Meine Antwort ist: Selbstreflexion. Jeder Mensch hat eine individuelle Korruptionsgrenze, die er sich bewusst machen sollte, um hernach ebenso bewusst gegensteuern zu können. Die zentrale Frage, die sich jeder integre Entscheidungsträger zu stellen hat, lautet: „Ist mein Verhalten gesellschaftlich akzeptiert, und erziele ich damit einen gesellschaftlich erwünschten Gemeinnutzen?“

Wem die Arbeit am eigenen Ethikkorsett zu anstrengend ist, weil sie eine Auseinandersetzung mit unbequemen und verdrängten Wahrheiten erfordert, der halte sich gerne an Regelvorgaben aus Brüssel – mit der Konsequenz, dass wir vielleicht doch irgendwann einmal in einem totalitären Regime landen.

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Christoph W. Dietrich ist Autor des Buchs „Spannungsfelder im Topmanagement – Ein Praxisleitfaden für gute Corporate Governance“ (BoD, 2022). Reaktionen auf dieses Buch sind u. a. auf LinkedIn ersichtlich.