Warum wir von Nachhaltigkeit reden, aber uns nicht nachhaltig verhalten…

Drucken

   Meine Leidenschaft gilt den Prinzipien guter Unternehmensführung und deren Verankerung im Boardroom. Dazu gehört es nun einmal, sich mit Nachhaltigkeit zu beschäftigen – immerhin einer der bestimmenden Werte unserer Zeit. Aber eigentlich ist Nachhaltigkeit keine Werthaltung per se, sondern ein „Wertederivat“, das sich aus anderen Werten ableiten lässt. Ich denke dabei etwa an Verantwortung, Integrität, Sicherheit, Stabilität, Fairness oder Gemeinwohlorientierung. Nur wenn Menschen und Organisationen diese fundamentalen Werte leben, entsteht auch Nachhaltigkeit. Agilität zählt natürlich ebenfalls zu den Nachhaltigkeitsingredienzien, wie auch der Veränderungswille („Ich habe den Entschluss zur Veränderung gefasst“) und die Veränderungsbereitschaft („Jetzt tu ich´s! Alle Voraussetzungen sind gegeben, um meinen Entschluss in die Praxis umzusetzen“).

   Der Wille zu nachhaltigem Leben ist leicht proklamiert – aber die Bereitschaft scheitert oft an der Verfügbarkeit der Ressourcen. Daran sind wir natürlich nicht nur selbst schuld, sondern auch andere, die eine Vorleistung für unser nachhaltiges Leben erbringen sollen. Liefert China die Solarpanels? Hat mein Installateur die Arbeitskräfte, um sie zu installieren? Darf ich sie installieren, und wenn ja, darf ich überhaupt einspeisen? Bekomme ich eine Förderung oder einen Kredit? Nachhaltigkeit ist somit eine kollektive Anstrengung, die eine Vielzahl von Akteuren beschäftigt – keine leichte Übung in einer pluralistischen, individualistischen und eigennützigen Gesellschaft, in der leicht widerstreitende Interessen aufeinanderprallen.

   Nachhaltiges Leben und Wirtschaften ist also mit vielen Fragezeichen besetzt, dementsprechend hoch ist das Frustrationspotenzial in der Umsetzung. „Dann lassen wir´s doch lieber gleich“ – der Mensch ist ein nutzenorientiertes Wesen, der Bequemlichkeit über Anstrengung stellt. Dass die Gier nach kurzfristigem Gewinn uns stärker motiviert als die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, lassen wir an dieser Stelle mal außen vor. Die Taube am Dach war noch nie so sexy wie der Spatz in der Hand. Darüber hinaus überfordert die Vielschichtigkeit des Nachhaltigkeitsthemas nicht nur den Intellekt (also die Fähigkeit, Komplexität zu durchdenken), sondern auch die Ambiguitätstoleranz (d.i. die Fähigkeit, Komplexität auszuhalten) eines Durchschnittsmenschen. „Sollen es doch die Politiker und Intellektuellen richten – die wollen schließlich, dass wir uns ändern.“ Frustration und unbewältigte Komplexität stellen einen guten Nährboden für das Entstehen von Angst dar. Angst wiederum lässt uns in der Sicherheit unserer Gewohnheiten verharren und ist somit der Feind jeglicher Veränderung.

  Umso wichtiger erscheint es mir, dass Unternehmen - in denen Menschen immerhin einen substanziellen Teil ihres Lebens verbringen - zu sozialen Plattformen werden, die die Machbarkeit von Nachhaltigkeit im Alltag erlebbar machen. Und damit wären wir wieder bei den Prinzipien der guten Unternehmensführung, von denen das erste Kapitel meines Buchs „Spannungsfelder im Topmanagement – ein Praxisleitfaden für gute Corporate Governance“ handelt. Werteorientierte Unternehmensführung bedeutet nämlich, in jeder Managementsitzung die unmittelbare Relevanz unternehmerischer Kernwerte für einen dauerhaften und gesellschaftlich erwünschten Unternehmenserfolg in Erinnerung zu rufen. „Werden wir als integres Unternehmen wahrgenommen, wenn wir diese Änderung unserer Allgemeinen Geschäftsbedingungen beschließen?“ „Wenn wir uns diesen neuen Markt erschließen, handeln wir damit verantwortungsvoll im Sinne aller Stakeholder?“ „Müssen wir die Öffentlichkeit über diese Angelegenheit transparent informieren?“ „Wird unsere Unternehmenskommunikation als authentisch wahrgenommen?“ „Sind diese Reorganisationsmaßnahmen fair für alle Mitarbeiter?“ Solche und andere Fragen sollten in einem Vorstand oder Aufsichtsrat gestellt werden, bevor Entscheidungen gefällt werden. Damit stärken Entscheidungsträger nicht nur die erforderliche Redlichkeit und Sorgfalt in der Geschäftsgebarung, sondern bereiten den Boden für ein ethisch-reflektiertes Handeln. Nur auf diesem Boden kann das schwache Pflänzchen der Nachhaltigkeit gedeihen. Wertebewusstes Arbeiten und Leben muss von der Chefetage ausgehen.

Christoph W. Dietrich

28.4.2023

***

Interessiert an rechtlichen, psychologischen und ethischen Grundlagen guter Führungsentscheidungen? Hier geht´s zum Buch „Spannungsfelder im Topmanagement – ein Praxisleitfaden für gute Corporate Governance“.