Von Raubtiersichtungen und Managemententscheidungen

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   Das Alpenland mutierte in den letzten Monaten zu einer dunklen, mystischen und gefährlichen Anderswelt, in der Problemwölfe und -bären ihr Unwesen treiben. Landwirte, Medien und Politiker befeuern dieses Narrativ mit Gusto - und so nimmt es nicht Wunder, wenn man plötzlich Berichte von Wolf- oder Luchssichtungen vernimmt, die keinem oberflächlichen Faktencheck standhalten. „Wer weiß“, mutmaßen Verschwörungsfans, „vielleicht war das in Berlin doch ein Löwe und das Wildschwein bloß eine Vertuschungsaktion der Mächtigen?“ Es scheint nur mehr eine Frage der Zeit zu sein, bis die Legende vom Werwolf aus unserem gruselaffinen Kollektivgedächtnis hervorgekramt wird und über alle Informationskanäle in die Welt hinausgeplärrt wird.

   Die vorgenannten Phänomene - angebliche Raubtiersichtungen an einem dafür unwahrscheinlichen Ort - sind das Ergebnis von Konfabulation, was nichts anderes ist als kollektives Storytelling. Fakten, die objektiv falsch sind oder Gegebenheiten, die so nie passiert sind, werden von Menschen als wahr und richtig empfunden und an andere weitergegeben. Konfabulation fand an steinzeitlichen Lagerfeuern genauso statt wie im einundzwanzigsten Jahrhundert in den sozialen Medien, die natürlich ein optimaler Brandbeschleuniger dafür sind. Wie kommt es zu Konfabulation? Und was hat dies mit der Managementpraxis zu tun, mit der sich dieser Blog normalerweise beschäftigt?

   Eine Ursache für Konfabulation liegt darin, dass wir unseren Sinnesempfindungen und den Erinnerungen daran vertrauen – obwohl wir sie eigentlich kritisch hinterfragen müssten. Unser Erinnerungsvorgang durchläuft nämlich zahlreiche, verzerrende Filter. Was wir mit unseren Sinnesorganen erfahren, ist nicht objektiv richtig – andere Personen haben möglicherweise unterschiedliche Empfindungen diesbezüglich. Was wir erfahren und empfinden, ist nicht das, was wir in unserem Gehirn speichern, und unsere Gedächtnisinhalte sind nicht notwendigerweise das, woran wir uns erinnern. Informationen, die wir abspeichern und zu einem späteren Zeitpunkt wieder hervorholen, werden nämlich von unserem emotionalen Erfahrungsgedächtnis - also der Summe unserer Lebenserfahrungen und der damit verbundenen Gefühle - massiv geprägt. Leicht erinnerbare Gedächtnisinhalte - d.s. solche, mit denen wir besonders eindrucksvolle Emotionen verbinden - übersteuern andere Informationen, die sich weniger stark einprägen. Raubtiere sind für uns von jeher mächtige Impulsauslöser: sie wecken unsere Phantasie und führen uns in archaische – vielleicht insgeheim herbeigesehnte – Zeiten zurück oder lösen Existenzangst aus, weil wir unser Bedürfnis nach Sicherheit bedroht sehen. Je nachdem, wie unsere Persönlichkeit gestrickt ist, löst die Wahrnehmung eines Raubtiers glückshafte Verzückung, schaurigen Grusel oder ein lähmendes Trauma in uns aus. Diese Emotionen bestimmen, wie unser Gehirn diese Begebenheit abspeichert, was wir davon an unsere Mitmenschen weitergeben und wie wir unsere Erzählungen ausgestalten.

   Eine zweite Ursache für Konfabulation liegt in unserer Neigung, Erzählungen zu verzerren, weil unser Wunschdenken, unsere Hoffnungen und unsere Erwartungen mit uns durchgehen. Das Raubtier steht für viele moderne Menschen sinnbildlich für vergangene – angeblich einfachere und leichter begreifbare – Zeiten. Mit ihm können wir somit einer sich immer schneller drehenden Welt, die uns mit zahlreichen Stressoren belastet, entfliehen. Die mediale Beschallung mit Raubtierrissen, Sichtungen und Abschüssen erregt unsere Phantasie derart, dass wir beim Schwammerlsuchen im Hauswald Fiktion und Realität nur mehr schwer unterscheiden können.

   Drittens kann es zum Konfabulieren kommen, weil wir den Informationsaustausch mit Mitmenschen als Wettbewerb empfinden, der der Befriedigung unseres Aufmerksamkeitsbedürfnisses dient. „Ich weiß etwas, was du nicht weißt“: ein beliebtes Machtspiel, das uns von Kindesbeinen an bekannt ist. Wir schmücken Geschichten dermaßen aus, dass manchmal die reale Begebenheit in den Hintergrund rückt oder sogar vollends aus dem Narrativ verschwindet. Der Erzähler erzielt einen „Wow-Effekt“ bei seinem Publikum und genießt seine Sternstunde im Rampenlicht – die allerdings nicht lange währt, da ihn bereits der nächste Erzähler in der Runde mit einer neuen Version übertrumpft. Schnell wird der alte Hofhund vom Bauern Franz zu einer reißenden Bestie mit Fangzähnen und glühenden Augen.

Was hat dieses Phänomen der Konfabulation nun mit der Arbeitspraxis in Managementsitzungen zu tun?

   Konfabulation stellt zweifelsfrei ein wichtiges Instrument in Organisationen dar, um homogene, dauerhafte und resiliente Kulturen zu formen. Wenn eine genügend große Anzahl von Personen an ein kollektives Narrativ von Arbeit und Erfolg glaubt, wird sie auch keine Mühen und Anstrengungen scheuen, um diese Vorstellungen (im Change Management Speak „Visionen“ und „Missionen“ genannt) in die Wirklichkeit zu übertragen. Mitunter werden Träume bekanntlich bereits wahr, wenn man sie sich nur fest genug einredet. Dieses „organisationale Konfabulieren“ resultiert allerdings im Extremfall in einer sonderbaren, eigenartigen und abgehobenen Version der Unternehmenswirklichkeit, die Außenstehende aus ihrer Perspektive nicht nachvollziehen können. Einige Beispiele aus meiner Arbeitspraxis sollen verdeutlichen, was damit gemeint ist.

   Unternehmensgründer etwa träumen von der Marktführerschaft in ihrem Geschäftssegment. Das erfolgversprechende Geschäftsmodell wird jahrelang in sozialen Medien abgefeiert, in Workshops zelebriert und auf Geschäftsmessen hochgejubelt (also konfabuliert). Die Gründer und ihre Mitarbeiter glauben an das gemeinsam kreierte Narrativ auch noch Jahre später, obwohl ihnen Mitbewerber mittlerweile längst das Wasser abgegraben haben. Das Erfolgsnarrativ besteht nur mehr aus inhaltsleeren Worthülsen, die mit der aktuellen Geschäftsrealität wenig zu tun haben.

   In Kreditkomitees von Banken werden Kreditnehmer aufgrund ihrer angeblich gesunden Finanzkennzahlen, ihrer Innovationskraft oder der Alleinstellungsmerkmale im Vergleich zu Mitbewerbern als „Topkunden“ gepriesen, denen man gerne einen Kredit einräumt. Und noch einen und noch einen, bis der Kunde bis über beide Ohren verschuldet ist, restrukturieren oder sogar Insolvenz beantragen muss. In solchen Situationen bemerkt die Bank oft, dass es mit den jahrelang konfabulierten, positiven Kundeneigenschaften – an die alle Beteiligten gerne unkritisch geglaubt haben – nicht weit her ist.

   Aufsichtsräte von Unternehmen sind nur allzu oft mit Personen besetzt, die zu den Eigentümern oder der Geschäftsleitung in einer Nahebeziehung stehen, was eine unabhängige Willensbildung und eine kritische Ausübung der Überwachungsfunktion erschwert. In Fragen der Unternehmensstrategie übernehmen solche Aufsichtsräte gerne das Narrativ der Geschäftsleitung. Anstatt dieses kritisch-distanziert zu hinterfragen, wird es wohlwollend abgenickt – auch, wenn es offenkundige Mängel, Risken oder Gefahren birgt. Die emotionale Verbundenheit, die aus persönlichen oder wirtschaftlichen Verquickungen mit Personen resultiert, die eigentlich ihrer Kontrolle unterstehen, lässt die Kontrollore auf die Seite der Kontrollierten rücken. Mit dieser Haltung unterstützen Aufsichtsräte die Konfabulation eines Geschäftsmodells, das möglicherweise nachteilige Auswirkungen auf die Vermögenssituation der Gesellschaft zeitigt.

   Konfabulation ist somit ein Kommunikationskatalysator, mittels dessen sich das gefürchtete Gruppendenken ausbildet - gefürchtet deshalb, weil dieser konfabulierte, kollektive Denkmodus nur schwer wieder umzukehren ist, wenn er einmal in einer Organisation Fuß gefasst hat. Veränderungen, Herausforderungen und Krisen erfolgreich zu meistern, ist dann für solche Organisationen sehr schwierig und gelingt nur durch eine „Wirklichkeitserdung“ mithilfe externer Berater.

   Wen sozialpsychologische Erscheinungen wie Konfabulation oder Gruppendenken und deren Einfluss auf Managemententscheidungen interessieren, liest gerne mein Buch "Spannungsfelder im Topmanagement - Ein Praxisleitfaden für gute Corporate Governance".

 

Christoph W. Dietrich, 4.8.2023