„Erzählen Sie mir einfach ein bisserl über sich!“ Dieses Intro des Recruiters im Bewerbungsgespräch wirkt vielleicht fad und abgedroschen. Möglicherweise denkt sich der Bewerber auch: „Jetzt soll ich wieder bei Adam und Eva anfangen? Hat der meine Unterlagen nicht gelesen?“.
Tatsächlich hat diese Aufforderung jedoch ihre Berechtigung. Sie ist allgemein gehalten und eröffnet dem Kandidaten die Möglichkeit, frei von der Leber weg über sich zu plaudern. Der Vorteil für den Recruiter besteht darin, Kommunikationsverhalten und -geschick des Kandidaten überprüfen zu können. Was der Kandidat zu Beginn des Gesprächs freiwillig preisgibt (oder verschweigt), sagt viel darüber aus, welche Geschichten er gerne über sich selbst erzählt. Welche Denkschienen haben sich in ihm ausgebildet? Wie ist sein Eigenbild? Was denkt er über sich und die Welt? Der Vorteil dieses Intros für den Kandidaten hingegen besteht darin, das Gespräch in eine für ihn günstige Richtung steuern zu können.
Die nachfolgenden Fragen des Recruiters sollten allerdings more to the point sein, um herauszufinden, wie der Kandidat tickt und was er kann. Daher möchte ich im Folgenden einen standardisierten Recruiting-Fragebogen eines werteorientierten Unternehmens mit euch teilen. Als „Werte-Assistent“ erachte ich diese als sinnvoll, um die Werte- und Kompetenzlandschaft des Kandidaten abzuchecken. Ihr möchtet ja wissen, ob er gut in die Kultur passt oder komplementäre Eigenschaften mitbringt. (Übrigens: wem die Formulierung mit „Werten“ zu hochgestochen ist, umschreibt sie einfach mit „Eigenschaften“, „Lebenseinstellungen“, oder fragt einfach nach „Was ist Ihnen wichtig?“ oder „Was treibt Sie an?“.)
- „Sie haben sich doch sicherlich unsere Website angesehen. Welche Unternehmenswerte können Sie darauf erkennen?“
Der Kandidat stellt mit seiner Antwort nicht nur sein Interesse am Unternehmen unter Beweis. Er zeigt auch, ob er wichtige persönliche Kompetenzen besitzt – einerseits Reflexionsvermögen, andererseits die Fähigkeit, sich selbst in sein Umfeld einzupassen.
- „Welche Werte haben Sie persönlich?“
Diese Frage zielt auf die Selbstreflexionsfähigkeit des Kandidaten ab und ermöglicht dem Recruiter einen „Werte-Check“, also ob es zwischen dem Kandidaten und dem Unternehmen Gemeinsamkeiten gibt.
- „Wie haben Sie denn diese Werte bisher gelebt? Wie könnte das ein Außenstehender erkennen?“
Diese zirkuläre Frage zielt ebenfalls auf Selbstreflexion, aber auch Empathievermögen ab.
- „Wie soll das Arbeitsklima aussehen, damit Sie sich bei uns wohlfühlen?“
Die Antwort des Kandidaten kann einerseits über seine Sozialkompetenz Auskunft geben. Andererseits offenbart er vielleicht sein Denken über (Eigen-)verantwortung, (Selbst-)disziplin, Selbstbestimmung vs. Anleitungsbedürfnis – Werthaltungen, die etwas über seine persönlichen Kompetenzen aussagen.
- „Was ist denn unser Unternehmenskonzept?“
Diese Frage zielt auf fachlich-analytische, aber vielmehr auf methodisch-strategische Kompetenzen des Kandidaten ab. Aufmerksame Beobachter stellen fest, dass diese Frage erst an fünfter Stelle kommt, nachdem die Werte-Kongruenz (der „Cultural Fit“) zwischen Unternehmen und Kandidaten abgecheckt wurde.
- „Welche Teamerfahrungen haben Sie bislang gesammelt? Wie war das für Sie?“
„Wir-Orientierung“ vs. „Ich-Stärke“ – darum geht´s in dieser Frage.
- „Wer war ihre beste Chefin, ihre beste Kollegin? Was zeichnete diese Personen aus?“
Diese Frage verprobt die Aussagen zu Fragen 4 und 6.
- „Was ist Ihnen bei der Arbeit wichtig?“
Jene Frage verprobt die Aussagen zu Fragen 2, 3, 4 und 6.
- „Welche besonderen Fähigkeiten und Hobbies haben Sie?“
Eine offene Frage, die Auskunft über die sozialen, persönlichen, fachlichen und handlungsbezogenen Kompetenzen einholen will. Alle Bereiche des Lebens – nicht nur der berufliche – werden damit ganzheitlich abgedeckt.
- „Wie wollen Sie unser Unternehmen mitgestalten?“
Diese Frage ist ebenso kompetenzorientiert und ergänzt bzw. verprobt die Frage 9.
Und das war´s auch schon mit dem Bewerbungsgespräch in unserem werteorientierten Beispielsunternehmen. Ihr werdet euch jetzt fragen: „Und Fragen zu Fachwissen, Bildung und Qualifikationen stellen die überhaupt nicht?“. Tun sie tatsächlich nicht. – denn Kompetenzen können nicht überprüft, sondern nur in der Praxis erlebt werden. Eine wertebasierte persönliche Basis mit den Mitarbeitern zu haben ist wichtiger als Fachkenntnisse, Bildung und Qualifikationen.
PS:
Für alle LeserInnen meines Blogs, die an werteorientierter Unternehmensführung interessiert sind: "Spannungsfelder im Topmanagement - Ein Praxisleitfaden für gute Corporate Governance" ist im September 2022 neu erschienen. Gute Einsichten bei dieser Lektüre wünscht,
Christoph Dietrich