Ist Wertemanagement ein Feind der Agilität?

Ich sitze einer Bildungsmanagerin gegenüber, der ich mein Seminar „Der Wertekodex: werteorientierte Unternehmensführung“ verkaufen will. Nachhaltige Unternehmensführung brauche Sicherheit, Planbarkeit und Konstanz, so beginne ich meinen Pitch. Werteorientiertes Management sei ein starker Stabilitätsanker in unsicheren Zeiten, setze ich nach und spiele damit auf die Unwägbarkeiten der „VUCA-Welt“ an. Ich erzähle meiner Gesprächspartnerin aus meinem reichhaltigen Erfahrungsschatz mit Unternehmenskrisen und betone, dass eine erkleckliche Anzahl von Unternehmen unter anderem deswegen scheitere, weil die Unternehmensethik nicht stimme. Ich erkläre ihr, dass Corporate Governance nur funktionieren könne, wenn sich ein Unternehmen den Prinzipien guter Unternehmensführung verpflichtet fühle.

„Hmmm, verstehe“, meint die Bildungsexpertin. An ihren zusammengekniffenen Augen sehe ich allerdings, dass sie offensichtlich Zweifel hinsichtlich meines Konzepts plagen. „Mir fehlt in Ihrem Seminar die Agilitätskomponente“, meint sie. „Besteht die Herausforderung für Unternehmen heutzutage nicht darin, wie sie ihre Mitarbeiter vom Sicherheits- und Gewohnheitsdenken in ein Change Mindset bekommen? Ich kann mir vorstellen, dass eine starre Werteorientierung die Veränderungswilligkeit nicht unbedingt fördert. Bedeutet Wertemanagement nicht, sich an althergebrachten Traditionen zu orientieren, anstatt nach neuen Wegen zu suchen? Ist Wertemanagement nicht agilitätsfeindlich?“

Mit dieser Argumentation habe ich nicht gerechnet. Ich schlucke und überlege. „Ist Management nicht wie Kindererziehung?“, denke ich laut. „Wie entwickelt sich ein Kind am besten? Indem man ihm in allen Entwicklungsphasen Sicherheit bietet, oder indem man ihm ständige Veränderung abverlangt? Ich meine, es braucht Sicherheit, denn nur in einem sicheren Umfeld ist angstfreie und somit nachhaltige Entwicklung möglich.“ Dasselbe, setze ich nach, gälte wohl auch für die Organisationsentwicklung. Eine Geschäftsführung hat in meinen Augen die Pflicht, für die größtmögliche Sicherheit ihrer Belegschaft zu sorgen und den gefühlten Veränderungsdruck zu minimieren. Sonst entsteht Mitarbeiterfluktuation statt -bindung, und das braucht in Zeiten des Facharbeitermangels wohl kaum ein Unternehmen. Verwirrung, Chaos und Angst schlagen sich außerdem unweigerlich in den Unternehmenszahlen nieder.

Nachdenkpause. „Außerdem sind Werte ja nicht in Stein gemeißelt, sondern können der jeweiligen Situation angepasst werden. Flexibilität, Veränderung oder Agilität stellen ja schließlich auch Werthaltungen dar. Werteorientiert zu leben, heißt herauszufinden, welche Haltungen, Einstellungen und Ansichten in der jeweiligen Lebenssituation günstig für meine Entwicklung sind.“

„Ein Wertekodex“, füge ich als Jurist hinzu, „ist nichts anderes als eine Unternehmensverfassung. Er legt fest, wie das Unternehmen sein wirtschaftliches Handeln im Verhältnis zu all seinen Stakeholdern gestaltet. Er beinhaltet eine Selbstverpflichtung des Unternehmens, mit seinen Stakeholdern nach gewissen ethischen Spielregeln umzugehen. Wer würde schon an der Sinnhaftigkeit einer Verfassung zweifeln?“

„Aber ist dieses Werte-Thema nicht etwas Sperriges, Philosophisches? Ich fürchte, das ist für viele Menschen nicht anschlussfähig“, wirft meine Gesprächspartnerin ein.

„Ganz im Gegenteil“, erwidere ich. „Jeder hat seine Werte, und jeder redet gerne darüber. Menschen lieben es, ihre Werthaltungen zu erklären, zu verteidigen und andere Menschen davon zu überzeugen. Werte können trennen, aber auch verbinden. Ein Werteprojekt im Unternehmen regt Diskussionen an, führt zu guten Gesprächen, lässt die Kollegen einander näher rücken. Das regt das Teambuilding an, und idealerweise versteht man am Ende des Projekts nicht nur seine Kollegen besser, sondern kann deren Ansichten und Einstellungen auch besser tolerieren.“

„Ich sehe schon – Sie werfen sich wirklich ins Zeug für Ihre werteorientierte Unternehmensführung“, meint die Bildungsmanagerin augenzwinkernd. „Mal sehen, ob ich Sie im nächsten Semester bei uns unterbringen kann“.

Oh ja – für dieses Thema brenne ich wirklich. Und ich freue mich, schon einige Interessenten für meinen nächsten Werte-Workshop im Oktober  zu haben.

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